Ich befinde mich seit dem 17. Mai 2022 – also seit genau 422 Tagen in Haft. Seit 422 Tagen bin ich meiner Freiheit beraubt. Nach 394 Tagen wurde hier, am 14. Juni 2023, die Anklageschrift vorgelesen. Es wurde dargelegt, dass gegen mich seit Jahren ermittelt wurde. Es wurde verlesen und behauptet, was ich getan haben soll, was ich gemacht haben könnte. Meinetwegen hatten sie sich sieben Jahre lang bemüht. Schließlich umfasst die Zeitspanne, für die ich angeklagt werden soll, die Jahre 2014 bis 2018. Es ist aber heute, wie jeder weiß, der 12. Juli 2023. Was war passiert, so dass Sie am frühen Morgen mein Zuhause gestürmt und mich festgenommen haben? Sie haben mich von meiner Familie weggerissen und von meiner Tochter, die gerade erst das Licht der Welt erblickt hatte, getrennt. Was war der Grund für diese Verzögerung? Haben Sie erst nach Jahren erkannt, dass ich ein gefährlicher Mensch sei? Was für eine Gefahr ging denn von mir aus? Sagen wir mal, es wäre dem so. Was soll denn die Verzögerung bedeuten? Solch eine Verzögerung deutet aber auf eine ziemlich lockere Haltung hin.
Dabei laufen diejenigen draußen frei herum, die die wahre Gefahr darstellen, indem sie Angst und Hass verbreiten. Sie verüben seit Jahren rassistische Anschläge, die tagtäglich zunehmen. Sie haben Häuser in Brand gesetzt, Menschen mitten auf der Straße angegriffen und jahrelang ermordet. Zuerst sprach man von den „Döner-Morden“. Später hat sich die Bande selbst entlarvt, so dass man sie richtig benannt hat. Man sprach nun von den NSU-Morden. Menschen, die sich wie ich gegen den Rassismus stellten, haben immer wieder auf den Zusammenhang zwischen diesen Angriffen und Morden und dem Rassismus hingewiesen. Die betroffenen Familien haben das, was sie erlebt haben, genauso gesehen. Aber ihre Stimmen wurden nicht ernst genommen.
Später ereigneten sich die Anschläge in Hanau und Halle. Diese Ereignisse, die ich aufzähle, sind die brutalsten und medial bekanntesten. Es finden in Deutschland jeden Tag rassistische Anschläge statt und ihre Zahl nimmt zu.
Hier die vom BKA für das Jahr 2021 veröffentlichten Zahlen:
Es wurden 21.964 Straftaten mit rechtem bzw. rassistischem Hintergrund begangen; hiervon waren 1042 Gewalttaten. Alle 24 Minuten findet ein rassistischer Angriff statt.
Insgesamt wurden im Jahr 2022 1248 Angriffe auf Geflüchtete verübt. Hierbei wurden 189 Menschen verletzt, 18 von ihnen waren Kinder. Außerdem wurden in Bautzen, Cuxhaven und Groß-Strömkendorf Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte verübt. Ich frage nochmal: „Bin ich etwa gefährlich?“ Dabei wurden im Jahr 2022 674 Haftbefehle gegen Rechtsextreme verhängt, deren Vollstreckung noch aussteht. Angesichts dessen, dass diese Zahl im Jahr 2012 noch 266 betrug, ist die Zunahme offensichtlich. Unter diesen Personen gibt es auch einige, die untergetaucht sind. Es erinnert an die NSU. Obwohl bekannt ist, dass von diesen Personen elf rechtsextrem sind und eine zu schweren Straftaten bereit ist, werden sie weder als Terroristen gesucht noch als solche angeschuldigt. Ferner haben 39 Personen in anderen Ländern Zuflucht gesucht. Diue Behörden, die es wissen müssen, wissen auch, wo sie Zuflucht gefunden haben, nicht mal sehr weit weg! 14 befinden sich in Polen, 9 in Österreich, 9 in der Schweiz, 3 in der Ukraine, 2 in Russland und je eine in Syrien und in Afghanistan. Wenn es aber um Linke geht, werden die Haftbefehle vollzogen. Auch wenn es erforderlich ist, sie in anderen Ländern festzunehmen.
Von den rassistischen Diskursen und Herangehensweisen im Leben, im Alltag, habe ich noch gar nicht gesprochen.
Wir werden dem Rassismus in der Schule, am Arbeitsplatz, auf der Straße, in den öffentlichen Einrichtungen, kurz in allen Bereichen des täglichen Lebens ausgesetzt. Dies ist ja nichts Neues. Ich habe es selbst mein ganzes Leben lang in unregelmäßigen Abständen erlebt. Im Kindergarten haben es meine Eltern erlebt. Sie wurden Zeugen davon, wie man ein Kind als Behinderten brandmarken wollte. Nur weil ich mit Verzögerung zu sprechen begann und ein schüchternes Kind war! Es war ein rassistischer Akt, nur um das Sonderschulkontingent aufzufüllen.
Es geht selbstverständlich noch weiter. Sie waren im letzten Jahr der Grundschule mit verschiedenen Methoden, mit diversen Anstrengungen, mich auf die Hauptschule zu schicken, konfrontiert. Sie werden sich ja fragen, wozu diese geführt haben. Anstelle der Sonderschule bin ich wie alle anderen auch zur Grundschule gegangen, anstatt der Hauptschule habe ich die Realschule besucht. Wie es dazu kam? Natürlich indem wir uns widersetzt und für unser Recht gekämpft haben.
Sich dem Rassismus zu widersetzen ist eine Aufgabe, es ist der Kampf für die eigenen Rechte. Damals war ich es vielleicht nicht selbst, der sich widersetzt hat. Diese Aufgabe übernahm meine Mutter. Es war bestimmt nicht einfach! Wie schwer es ist, habe ich jahrelang selbst gesehen und erlebt. Ich kenne allzu gut, was es bedeutet, dass nach dem Schulabschluss die Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz abgelehnt werden und dass man zu keinem Bewerbungsgespräch eingeladen wird. Glauben Sie mir, ich war nicht der Einzige, der Anfang der 2000er Jahre all das erlebt hat.
Nach der Realschule habe ich die Fachhochschulreife erlangt und bin anschließend auf die Universität gegangen. Nach abenteuerlichen 4 Jahren, in denen ich diversen Diskriminierungen ausgesetzt war, musste das Studium vorzeitig abbrechen. Viele meiner Kommiliton*innen und ich selbst sind wegen unseres migrantischen Hintergrunds auf Hindernisse gestoßen. Wir haben eine Behandlung zweiter Klasse erfahren, sei es in der Notengebung, sei es in den Äußerungen der Hochschullehrer*innen.
Ja, ich wurde hier geboren. Ich bin hier aufgewachsen, hier zur Schule gegangen. Ich habe hier Freundschaften geschlossen, wurde Teil des sozialen und des Arbeitslebens. All das macht mich aber nicht zu einem Deutschen. Ich bin der Sohn einer Arbeiterfamilie. Ich bin das Kind einer migrantischen Familie. Man nennt uns die dritte Generation. Die erste Generation meiner Familie kam in den 60er Jahren als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Danach sind sie in ihr Land zurückgekehrt, ohne lange hier gelebt zu haben, und haben ihr Leben in ihrer Heimat fortgesetzt. Später haben dann meine Eltern als Zweite Generation weiterhin ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgebaut. Sie haben es aus eigenen Kräften geschafft. Mein Vater hat 45 Jahre lang in den Fabriken Deutschlands geschuftet. Aus welcher Klasse ich komme, welcher Klasse ich zugehöre, habe ich in derselben Fabrik schuftend erfahren.
In Deutschland geboren zu sein und hier aufzuwachsen bedeutet nicht, dass man seine Wurzeln und seine Geschichte nicht kennen, seine Kultur nicht ausleben, seine Heimat nicht besuchen soll. Das Gegenteil war der Fall, mein Gesicht war meiner Heimat zugewandt. Ich habe sie kennen gelernt, gesehen, erlebt und geliebt. Die eigene Heimat und das eigene Volk zu lieben ist kein Verbrechen. Für Anatolien einzutreten und es wertzuschätzen, seine eigenen Wurzeln auszuleben und weiterleben zu lassen, ist die natürlichste Sache der Welt. Es ist mein Recht. Ich werde mich ja dafür nicht schämen. Ich bin es meinem Kind schuldig, diese schönen Werte am Leben zu erhalten, sie zu lehren, sie ihm nahezubringen und es dafür zu begeistern. Allerdings kann ich heute diesen Wunsch von mir nicht erfüllen. Sie haben mich verhaftet, bevor meine Tochter ihren Vater kennenlernen konnte.
Sie haben nicht nur mich meiner Freiheit beraubt, sondern gleichzeitig auch ein Baby, ein Kind der Freiheit beraubt, mit seiner Mutter und seinem Vater aufzuwachsen. Heute ist ein Jahr vorbei, wer wird für dieses eine Jahr Rechenschaft ablegen, das mir geraubt wurde? Wer wird mir diese gestohlene Zeit zurückgeben? Was ist mit den Erinnerungen, die ich niemals werde haben können? Es beschränkt sich ja auch nicht auf das eine verlorene Jahr. Wie lange Ihr Gerichtsverfahren dauern wird, ist unbekannt. Es steht noch in den Sternen, was für eine Bestrafung mich erwartet. Wenn ich nach Jahren verhaftet werde, wer weiß, wie das Gerichtsverfahren laufen und wie sein Ausgang sein wird? Was für Ziele verfolgen die Bundesanwaltschaft und Herr Setton nach Jahren in Bezug auf mich?
Was sind ihre Ziele? Was wollen sie? Solche Fragen stehen im Raum. Was bezwecken sie durch meine Kriminalisierung? Was möchten die Bundesanwaltschaft erreichen, indem sie mich von meiner Tochter und meiner Frau trennt? Warum hat sie nach Jahren ein Problem mit unserer Zukunft? Von welcher Gefahr will sie die Welt fernhalten, welche Gefahr will sie einsperren, indem sie mich von meiner Familie, meinem Leben, meiner Arbeit und meiner Bildung losreißt? Als wäre es nicht genug, meine Gesundheit auf‘s Spiel zu setzen, möchte sie mich kriminalisieren und im Gefängnis einsperren. Was wird es aber für Folgen für die Psyche meiner Frau und meines Kindes haben?
Was möchte man dadurch erreichen, dass man meine Frau ohne Ehemann und meine Tochter ohne Vater zurückgelassen werden? Ich frage Sie. Welche Schuld trägt ein neugeborenes Baby? Welche Schuld trägt eine junge Mutter? Wir sehen, hören und lesen jeden Tag in den Nachrichten, dass gegenwärtig die wirtschaftlichen Bedingungen gar nicht einfach sind. Fast überall auf der Welt steigt die Inflation rasant. Es gibt Profiteure der Wirtschaftskrise. Es gilt aber die Tatsache, dass es in Wirtschaftskrisen stets mehr Verlierer als Gewinner gibt. Ich glaube, dass ich niemandem zu erklären brauche, wie schwer für eine Mutter ist, auf sich allein gestellt materiell und emotional für ein Kind sorgen zu müssen. Heute befinden sich viele Mütter und Väter im Gerichtssaal. Wen auch immer Sie fragen würden, er oder sie würde Ihnen von diesen Schwierigkeiten berichten. Natürlich würden sie auch von den schönen Seiten davon berichten. Ich bin wütend, dass Sie mich weder die schwierigen noch die schönen Seiten davon erleben lassen. Es ist nicht das erste Mal und wird auch nicht das letzte Mal in der Welt sein, dass ein Vater von seinem Kind getrennt wird, dass ein Vater dazu gezwungen wird, nicht bei seinem Kind zu sein. Es wird nicht das letzte Mal sein, solange es noch Hunger, Armut, Ungerechtigkeit, Kriege, Naturkatastrophen, Ausbeutung, Unterdrückung, Flucht und Exil gibt.
Während im Jahr 1990 weltweit 153 Millionen Menschen aus diesen Gründen zur Migration gezwungen wurden, stieg eben diese Zahl 2020 auf 281 Millionen Menschen. Allein bis Mitte 2022 mussten 47 Millionen Menschen aus ihren Herkunftsländern flüchten. Im Jahr 2000 waren es 17 Millionen. In 22 Jahren ist diese Zahl dermaßen gestiegen, dass sie sich sozusagen verdreifacht hat. Jede siebte Person musste ihr Herkunftsland als Flüchtling verlassen.
Die Zahl der Menschen, die aufgrund von Kriegen zur Binnenmigration innerhalb ihres eigenen Landes gezwungen wurden, beläuft sich auf 53 Millionen. Diese Liste wird von Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo und Afghanistan angeführt. Laut UN-Angaben beläuft sich die Zahl derer, die von Gewalt betroffen sind, auf 27 Millionen. Diese Liste wird angeführt von Syrien mit 6,8 Millionen, Afghanistan mit 2,7 Millionen und Venezuela mit 4,6 Millionen Menschen. Die Länder, in denen sie Schutz suchen, sind die Nachbarländer (Kolumbien, Pakistan und die Türkei). Während die Zahl der Flüchtlinge aufgrund von Naturkatastrophen 2011 15 Millionen betrug, belief sie sich 2020 auf 30,7 Millionen. Hier sehen wir die Grausamkeit des Kapitalismus!
Kommen wir nun zu denjenigen, die auf Fluchtwegen ihr Leben verlieren. In mediterranen Gewässern haben zwischen 2014 und 2022 25 Tausend Menschen ihr Leben gelassen. Die Zahl derjenigen, die, noch bevor sie das Mittelmeer erreichen konnten, in der Wüste Sahara ums Leben kamen, ist zweimal so hoch. Diese Zahl stammt aus dem Jahr 2019. Das sind die Erfolge der Agentur bzw. des Unternehmens Frontex. Wenn wir den Anstieg der Ausgaben von Frontex betrachten, sehen wir Folgendes:
Während es im Jahr 2005 noch 6 Millionen waren, waren es 2015 142 Millionen, 2022 wiederum 754 Millionen. Laut offiziellen Angaben steigt das Budget von keiner europäischen Institution so schnell wie das von Frontex.
In Bezug auf die Flüchtlingspolitik wurde 2016 ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkischen Republik unterzeichnet. Für diesen Zeitraum, also seit 2016, hat die Türkische Republik von der EU 6 Milliarden Euro erhalten. Die Türkei hat insgesamt 4 Millionen Migrant*innen aufgenommen. 3,6 Millionen davon stammen aus Syrien. Wir haben nicht vergessen, dass die Türkei zu seiner Zeit die Flüchtlingsfrage als Druckmittel eingesetzt hat. In Folge der gegenseitigen Abkommen hat die Erdoğan-Regierung das bekommen, was sie wollte. Immer wenn die EU und die Imperialisten in eine schwierige Lage geraten, versucht Erdoğan seine Sanktionen durchzusetzen. Genauso wie er 2016 das EU-Türkei-Abkommen in die Wege geleitet hat, versucht er auch heute seine Wünsche durchzusetzen. Mit dem Beginn des Krieges zwischen der Ukraine und Russland am 24. Februar 2022 drückte er ungehemmt und offen aus, warum er den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden beharrlich verhindert. Es ist nicht neu, dass er die Auslieferung der Oppositionellen gegen seine Regierung fordert. Auch nicht, dass er immer neue Terrorlisten veröffentlicht. Außerdem auch nicht neu ist es, dass er die schwierige Lage ausnutzt, in die Deutschland und die Europäische Union geraten sind. Es ist nichts Neues, dass man uns heute hier vor Gericht stellen will.
Die Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei mit dem Terror ist auch nichts Neues. Es sind die Folgen der gegenseitigen Verhandlungen. Vor dem Hintergrund solcher Szenarien heraus und in Folge der Zusammenarbeit möchte mich Deutschland heute im Namen der Türkei vor Gericht stellen und kriminalisieren.
Bezüglich der verdeckten Ermittlung gegen mich wurde im Jahre 2021 vom BGH selbst der Beschluss gefasst, dass es nach fünf Jahren keiner Geheimhaltung mehr bedurfte, was bedeutete, dass man den Ermittlungen Steine in den Weg gelegt hat. Der BGH wollte, dass man mir Bescheid gab und mich informierte. Allerdings erfolgte diese Bekanntgabe durch die Bundesstaatsanwaltschaft erst elf Monate später.
Am 1. März 2022 beantragte das Bundeskriminalamt beim Generalbundesanwalt meine Verhaftung. Warum erfolgt dieser Antrag genau 5 Tage nach Beginn des Krieges zwischen der Ukraine und Russland? Gibt es da einen Zusammenhang? Wir sehen also, dass nichts im Leben zufällig passiert. Nach dem Gesetz der Dialektik ist alles miteinander verbunden. Das Bedürfnis nach Zusammenarbeit können wir auch folgenderweise ausdrücken. Daher kommen bei mir Fragen auf. Vielleicht erhalte ich eines Tages Antworten darauf.
Ich möchte auf das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei zu sprechen kommen.
Ein Resultat des Abkommens können wir folgenderweise durch Zahlen zum Ausdruck bringen: Während es 2016 in Griechenland 177 Tausend Asylbewerber*innen gab, ist diese Zahl im Jahr 2022 auf 4.200 Personen gesunken. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen halt. Das ist es, was man gegenseitiges Schulterklopfen nennt. Dies ist nur ein Teil der Zusammenarbeit. Deutschland ist führend bei den ausländischen Direktinvestitionen in die Türkei. Sowohl hinsichtlich der Dauer als auch im Hinblick auf deren Höhe. Derzeit sind insgesamt etwa 7.700 Unternehmen durch direkte oder indirekte Investitionen in der Türkei präsent. Seit 1980 haben deutsche Unternehmen in der Türkei insgesamt ca. 14,5 Mrd. US-Dollar investiert, so eine Meldung im Juli 2021. Den Großteil der Investitionen bilden langfristige Neuanlagen. Also sogenannte „Greenfield-Projekte“. Deutsche Unternehmen sind in zahlreichen Branchen vertreten. Darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen. Bis zum Jahr 2002 betrugen die gesamten ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei insgesamt 15 Mrd. US$ Im Zeitraum 2003 – 2021 stiegen die Direktinvestitionen auf 240 Mrd US$.
Lassen Sie mich es folgenderweise ergänzen. In einer Erklärung, die nach dem Treffen zwischen den Außenministern Deutschlands und der Türkei am 29. Juli 2022 veröffentlicht wurde, wurden die Zahlen über die wirtschaftlichen Beziehungen, das Handelsbilanzvolumen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei bekanntgegeben.
Im Jahr 2021 betrug es 42 Milliarden USD; im Jahr 2022 waren es 52 Millarden USD
Wir sehen die Bedeutung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der beiden Länder. Der Grund für die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Länder, mit denen man gut zusammenarbeitet, besteht selbstverständlich in den wirtschaftlichen Beziehungen, in der Zusammenarbeit. Es ist heuchlerisch, so zu tun, als würden keine Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen und die Rechtsprechung nicht mit den Füßen getreten. Die inneren Probleme der Länder, mit denen die Zusammenarbeit nicht so stark ist, mit denen es Probleme gibt, die nicht der eigenen Weltanschauung entsprechen, nicht alles tun, was man von ihnen will, in die man nicht investieren kann, von denen man nicht das bekommt, was man will, werden dagegen sofort und ständig angesprochen. Wenn es aber um die Türkei geht, tut man es nicht. Die Geschichte sagt uns, dass die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei nicht neu ist. Seien Sie nicht der verlängerte Arm eines Diktators und Faschisten. Spielen Sie nicht mit meiner Zukunft und der meiner Familie. Begeben Sie sich nicht auf das gleiche Niveau mit jemandem, der alle zu seinen Feind*innen macht, alle schlecht behandelt, demütigt, ausbeutet, missachtet, verspottet und sich über das Leiden von Menschen lustig macht.
Stellen Sie sich vor, in einem Land ereignet sich eine große Naturkatastrophe und Sie versagen als Regierung dieses Landes. Am 6. Februar 2023 fand im Südosten der Türkei ein großes Erdbeben statt. Ich kann mich an jenen Morgen noch sehr gut erinnern. Ich habe es am Morgen in den Untertiteln des Fernsehens gelesen. Das Schlüsselwort war für mich „Südosten“. Das Erste, woran ich dachte, war meine Heimat Antep. Als ich später auch die Stärke des Erdbebens erfahren habe, kam mir nichts Gutes in den Sinn. Als gesagt wurde, dass zehn Städte vom Erdbeben betroffen sind und es sich mitten in der Nacht ereignet hat, war für mich die Größe des Schocks nicht mehr zu ertragen. Kann ein Mensch sofort an zehntausende Tote und Millionen Betroffene denken? Ja, das kann er. Das kann er, wenn er sich mit der Geschichte, der Politik und den politischen Zuständen in einem Land mehr oder weniger auskennt. Wenn wir von einem Land sprechen, in dem es Korruption, mafiose Strukturen und Vetternwirtschaft herrschen, geht ihm genau das sofort durch den Kopf.
Laut Bericht der Weltbank für das Jahr 2018 haben 5 Unternehmen (Cengiz, Limak, Kalyon, Kolin und Makyol) im Bausektor und die mit diesen verflochtenen Sektoren im weltweiten Vergleich die meisten Ausschreibungen zu staatlichen Infrastrukturprojekten zugesprochen bekommen. Überdies wurde die nach dem Erdbeben von 1999 eingeführte Erdbebensteuer im Jahr 2011 durch den damaligen Wirtschaftsminister Mehmet Şimşek für andere Zwecke ausgegeben und zweckentfremdet. Anderenfalls hätte der heute verfügbare Betrag 38 Mrd. US$ betragen. Während auf der einen Seite das Budget der AFAD, der staatlichen Organisation für Katastrophenhilfe, kleiner wurde, stieg das Budget der Diyanet (Amt für Religiöse Angelegenheiten) um 56,6 % an. Die Diyanet verfügt über ein Budget von 36 Mrd. Lira, das Budget der AFAD beträgt hingegen 8,75 Mrd. Lira.
Diese Erdbebenkatastrophe war nicht die erste, wird auch nicht die letzte sein. Das ist es, was uns die Wissenschaft sagt; dies sagen uns die Bewegungen der bestehenden Erdplatten. Welcher Sache ist es ähnlich, wissen Sie? Lämmern, die sich zur Schlachtbank führen lassen. Es ist ähnlich wie in einen sauren Apfel hinein zu beißen. Danach die Katastrophe Gott zu überlassen, sie zu verschleiern, indem sie als Schicksal dargestellt wird, entspricht einer Lebensphilosophie. Das ist die Art wie regiert wird. Familien sind ausgelöscht, Menschen haben ihr Zuhause verloren, Jahrhunderte alte Gebäude und Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Träume und der Reichtum der Menschen sind zerstört. Man könnte unendlich weiter aufzählen, ohne jemals zum Ende zu kommen. Es ist dies geschehen, es ist jenes geschehen. Wen interessiert es? Das anatolische Volk interessiert es; die Probleme des Volkes interessieren das Volk. Das Volk unterstützt sich gegenseitig und übt Solidarität, wie es dies bei jeder Katastrophe tut, die ihm bisher widerfahren ist. Wir sprechen hier von einem Volk, dessen Solidaritätskultur stark ausgeprägt ist. Eben jene Solidaritätskultur am Leben zu erhalten, ist für mich eine natürliche Handlung. Gerecht, solidarisch, sozial und sozialistisch zu sein ist kein Verbrechen, sondern eine Lebensweise. Den Menschen neben oder um sich zuzuhören, ist ebenfalls kein Verbrechen. Es stellt überhaupt kein Verbrechen dar, sich Probleme anzuhören, sich um ihre Lösung zu bemühen und liebevoll zu handeln. Es ist außerdem ebenfalls eine völlig selbstverständliche Sache, durch meine Jugendzeit hindurch meiner eigenen anatolischen Kultur entsprechend zu handeln und zu leben. Es ist auch kein Verbrechen, auf Veranstaltungen und Konzerte zu gehen, dabei zu helfen und selbst welche zu organisieren. Im Gegenteil, es geht darum, für seine eigene Identität einzustehen und diese gemeinsam mit anderen am Leben zu erhalten. Wir müssen der degenerierten Kultur, die mir, uns hier aufgezwungen wird, eine Alternative bieten können. Wenn ich mich nicht für gute Werte eingesetzt hätte, wäre ich heute vielleicht wer weiß in welchem Sumpf gelandet, ich wäre vielleicht verloren. Obwohl ich während meiner ganzen Schulzeit damit konfrontiert war, hat meistens und vorwiegend das Richtige gesiegt. Ich habe die richtigen Fragen gestellt und die richtigen Entscheidungen getroffen. Es ist nicht falsch, für das Richtige, die Rechte, die Gerechtigkeit, die Freiheit und die Wissenschaft Partei zu ergreifen und zugunsten der Wahrheit Stellung zu beziehen. Im Gegenteil, es ist die Aufgabe eines jeden Menschen. Zu den Unterdrückten zu halten, ja sogar eine*r von ihnen zu sein ist nichts, was sich von heute auf morgen entwickelt. Wie ich bereits gesagt habe, bin ich das Kind einer Arbeiterfamilie. Ich bin der Sohn eines Vaters, der Zeit seines Lebens von seiner eigenen Arbeitskraft gelebt hat. Ich habe bereits im jungen Alter gesehen und erlebt, was Arbeit bedeutet, was es bedeutet, im Schweiße seines Angesichts zu leben. Jedes Mal, wenn wir in unsere Heimat in den Urlaub gefahren sind, habe ich diejenigen, die gearbeitet und produziert haben, direkt am Beispiel meiner Verwandten gesehen und kennengelernt.
Mein Bekenntnis zur Wissenschaft, meine Fähigkeit, kritisch zu denken, habe ich vom „Memed, dem Kommunisten“ gelernt. Er war mein Großvater. Mein Großvater nimmt bei mir einen besonderen Platz ein! In unseren Gesprächen und bei unseren gemeinsamen Arbeiten auf dem Bau hat er mir eine Menge beigebracht. Er verfolgte ständig das aktuelle Geschehen in der Türkei.
Was bedeutet es, Migrant zu sein? Was bedeutet es, Arbeiter, Bauarbeiter zu sein? Ich habe es von ihm gelernt, ich habe es bei ihm gesehen und erlebt. Es ist kein Verbrechen, aus diesem Grund menschlich und politisch zu sein, gegen Rassismus und Faschismus einzutreten. Was ein Staat seinen eigenen Bürger*innen antun kann, habe ich zum ersten Mal im Fernsehen gesehen. An jenem Tag habe ich es vielleicht nicht ganz verstanden. Wir schreiben das Jahr 2000. Ich war 14 Jahre alt und es waren die Tage zwischen dem 19. und 22. Dezember. Es war das größte Gefängnismassaker in der türkischen Geschichte. Glauben Sie mir, ich hatte nicht begriffen, was passiert war. Es waren aber Kriegsaufnahmen. Ein Staat hatte den Revolutionär*innen den Krieg erklärt. Er war gekommen, um zu morden. Das war es, was ich im Fernsehen sah. Ich sollte erst später erfahren, dass damals sich derartige Massaker weder zum ersten noch zum letzten Mal ereigneten. Davor hatte ich wie jeder, der in Deutschland zur Schule gegangen ist, Aufnahmen des Genozids beim Zweiten Weltkrieg gesehen. Jahre später sollte ich noch lernen, dass das Massaker vom 19.-22. Dezember eines war, das sich unmittelbar gegen Revolutionär*innen richtete. Später sollte ich von den Massakern in Maraş, Çorum und Sivas erfahren. Es war für einen Jugendlichen nicht normal, dass sich in seiner geliebten Heimat solche Dinge ereignet hatten, dass man dort Derartiges erlebt hatte. Wie mein Großvater zu sagen pflegte: „Du sollst ein Forscher sein bzw. werden.“ Ja, ich habe geforscht, gelesen und gelernt. Ich habe die Revolutionär*innen der Türkei kennengelernt. Ich habe gelernt, wer Deniz Gezmiş, Mahir Çayan und İbrahim Kaypakkaya waren, was sie vertreten und erlebt haben. Ich habe mit der Protest- und der politischen Musik Bekanntschaft gemacht. Ich habe die Geschichte meiner eigenen Heimat gelernt. Ich habe Karayılan, Şehit Kamil [Deutsch: Kamil dem Märtyrer], der die Würde und Ehre seiner Mutter verteidigte, und Şahinbey kennen gelernt. Ich habe von den Heldentaten des Befreiungskrieges gehört. Ich spreche hier nur von den Helden, die aus meiner Heimat, also Gaziantep stammen. Es ist selbstverständlich, dass ich politisch bin, dass ich mich politisiert habe. Dazu reicht es, dass ich mein Gesicht meiner eigenen Heimat zuwende, wobei die Völker Anatoliens Jahrhunderte lang Volkshelden gegen Gräueltaten und Unterdrückung erzeugt haben. Von Scheich Bedreddin über Köroğlu, Çakırcalı Efe, Pir Sultan Abdal bis hin zu Sütçü Imam.
Sie haben gegen Unrecht und Tyrannei gekämpft. Diese Helden hatten sich für
den Weg der Gerechtigkeit und des Teilens entschieden. Sie haben im Kampf für die Unabhängigkeit ihr Leben geopfert. Pir Sultan, der sein Leben am Galgen verlor, sagt: „Wer umkehren mag, mag es tun! Ich werden nicht abkehren von meinem Weg!“
Meine Gefangenschaft von über einem Jahr habe ich im Gefängnis von Hamburg verbracht. Ich saß dort in der „Sicherheitsstation“. 23 Stunden am Tag habe ich in der Zelle verbracht. Eine Stunde am Tag, „Hofgang“ genannt, bin ich gemeinsam mit anderen Gefangenen in die frische Luft hinausgegangen. Mein soziales Leben in der Untersuchungshaftanstalt Hamburg beschränkte sich darauf. Sonst durfte ich mich – bis auf monatlich eine Stunde telefonieren mit meiner Familie und 2 Stunden Besuchsrecht – an keiner sozialen Aktivität beteiligen. Anfangs sagte man mir, dass ich mich in jener Station an keiner Aktivität beteiligen dürfe. Als ich mir später sagte, dass ich für den Fall der Fälle einen Antrag stellen sollte, habe ich keine Antwort auf meinen Antrag erhalten. Ich wurde buchstäblich isoliert. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Isolation Folter ist. Außerdem wurde ich daran gehindert, mit meinem Kind Kontakt zu haben. Als wäre es nicht genug, dass Sie mich von ihm losgerissen haben, als es 14 Tage alt war, haben Sie noch eine Glasscheibe zwischen uns gestellt. Sie haben selbst meine Tochter kriminalisiert. Als wir die Entfernung der Glasscheibe beantragt haben, sagte man uns, dass man unseren Antrag aus Angst davor ablehne, dass meine Frau über meine Tochter geheime Notizen und Nachrichten einschleusen könnte. Der eigentliche Knaller kommt jetzt: Angeblich könnte ich mein eigenes Kind als Geisel nehmen und mich aus dem Gefängnis freipressen. Diejenigen, die das gedacht und dies geschrieben haben, würden es ja vielleicht tun. Aber ich würde weder mein Kind für irgendetwas ausnutzen, noch würde ich ihr Leben gefährden. Das wissen diejenigen sehr gut, die am 17. Mai 2022 meine Wohnung gestürmt und mich festgenommen haben. Sie sollten es mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Eine solche Mentalität kann es bei uns nicht geben. Das ist es, was man Übertreibung nennt. Jetzt werden Sie wohl hier sagen, dass Sie mir am 3. Mai 2023, an ihrem ersten Geburtstag erlaubt haben, meine Tochter zu sehen und mit ihr Kontakt zu haben. Es stimmt. Ja, nach einem Jahr! Haben Sie erst nach einem Jahr gemerkt, dass es nicht gefährlich ist? Was haben Ihnen die LKA-Beamten ein Jahr lang von den Besuchen meiner Frau und meiner Tochter berichtet? Unsere mündlichen Anträge haben Sie abgelehnt. Sind ihre Bedenken verschwunden, als die Entscheidungsbefugnis auf das OLG Düsseldorf überging? Herr Generalbundesanwalt, glauben Sie mir, ich bin kein Mensch, der auf Geburtstage besonderen Wert legt. Für mich haben die besonderen Tage keine Priorität. Wichtig ist, dass man ein ganzes Leben lang und jeden Tag seine Liebe zu zeigen weiß. Sie haben mich dieser schönen Gefühle beraubt. Sie haben alles in Ihrer Macht Liegende getan, um mich meine Tochter nicht anfassen, meine Frau nicht umarmen, nicht für sie so stark wie ein Fels sein zu lassen. Wen schützen Sie hier vor wem?
Zu guter Letzt möchte ich immer wieder und wieder fragen: Ich frage euch offen und direkt: Welche Gefahr strahle ich aus? Falls es andere Gründe gibt, geben Sie sie preis! Wen schützen Sie vor wem? Welche Angst haben Sie?
Ich danke allen, die seit meiner Festnahme bis zum heutigen Tag mit mir solidarischen waren. Ich danke ihnen dafür sie im Klassenkampf auf der richtigen Seite ihren Platz eingenommen haben und gemeinsam kämpfen. Es ist kein Verbrechen, gegen Rassismus und Faschismus zu kämpfen.
Es ist eine Pflicht!
Ich grüße alle politischen Gefangenen, die in diesem Kampf gefangen genommen wurden.
Alle politischen Gefangenen sind umgehend freizulassen!
Der Paragraf 129 a/b ist umgehend abzuschaffen!
Es lebe der Kampf aller Antifaschist*innen!
Hoch die internationale Solidarität!